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Stimmen vom Berg der Sprachen. Kaukasische Frauen erzählen

Produktinformationen "Stimmen vom Berg der Sprachen. Kaukasische Frauen erzählen"
  • Pop, Traian
  • Pas, Rosa & Apsa, Fatimat & Kuapsyrgan, Walentina & Kwizinija, Gunda & Tarba, Neli & Matyshewa, Aminat & Chakunowa-Chuas, Sarema & Dsybowa, Sanijat & Anahit Topchyan, Anahit & Warosjan, Hasmik & Barseghjan-Chandshjan, Mari & Ganijewa, Alissa & Alijewa, Fasu & Mesud, Afaq & Anarqizi, Gunel & Babajewa, Alewija & Kusgowa, Inga & Tamas’chanowa, Lejla & Terkakijewa, Eset & Guruli, Iunona & Mcheidse, Ana & Gariquli, Mariam & Gabaschwili, Ekaterine & Bagandowa, Naira & Kurbanowa, Patimat & Kurbanowa, Ajscha & Magomed, Bana & Tapalajewa, Aminat & Ostrewnaja, Ljubow & Urujmagowa, Esetchan & Farulaj, Pakisat & Kerim, Sedaghet & Muslimowa, Mijasat & Abuqal, Shanna & Tschjurpaqal, Mijasat & Qashlaqal, Kursi & Alischewa, Schejitchanum & Bajramuk, Chalimat & Begijewa-Kutschmesowa, Raja & Firowa-Kanukowa, Anfisa & Schomachowa, Salina & Chakuasche, Madina
  • 978-3-86356-388-2
  • 07.10.2025
  • 140 x 45 x 200 (B/T/H)
  • 889
  • mit Klappen
  • Kaukasische Bibliothek (34), Epik (146)
  • deutsch
  • 524 Seiten
  • 7 %

  • Nachwort Im vorliegenden Buch sind Prosawerke von 42 Autorinnen vereinigt, die 17 verschiedenen Nationalitäten angehören. Die älteste Autorin wurde im Jahre 1851 geboren, die jüngsten Autorinnen 1988. Die älteste Erzählung in unserem Band wurde 1890 geschrieben, die jüngsten Werke 2021. Es ergibt sich eine Zeitspanne von 130 Jahren. Und dennoch ist es nur ein kleiner Zeitabschnitt in der Literatur von Frauen des Kaukasus, da hier im Buch lediglich Prosa präsentiert wird. Ich selbst habe ein Buch unter dem Titel „Georgische Autorinnen aus 11 Jahrhunderten“ (Prosa – Lyrik – Drama), Aachen 2014, mit einer elfjahrhundertelangen Tradition der georgischen Frauenliteratur herausgegeben. Die ältesten Literaturen des Kaukasus (zu denen die georgische, armenische, aserbaidschanische u. a. Literaturen gehören) verfügen über ebensolche jahrhundertelangen literarischen Traditionen von Frauen. Dabei sind gerade Werke von ihnen gewiss eher verloren gegangen, vernichtet, vergessen oder unterdrückt worden als solche von männlichen Autoren. Ab wann haben Frauen im Kaukasus Literatur geschrieben? Diese Frage läßt sich naturgemäß nicht genau beantworten, aber es gibt Hinweise, dass es weit über tausend Jahre sein könnten. Wie komme ich darauf? Die ältesten literarischen Werke der Kaukasier sind mündlich weitergetragene Epen wie das Narten-Epos, Amirani-Epos (Prometheus) sowie Tempelliteratur und anderes. Bei der Untersuchung des nordkaukasischen Nartenepos, dessen Wurzeln bis zum Anfang des 1. Jahrtausends vor Ch. zurückgehen, fiel dem Erforscher des tscherkessischen (adygischen) Narten-Epos Chasin Bratow (Brat Chesin) eine Besonderheit auf: Ein Teil des Werkes muss von eine Autorin verfasst worden sein. Der Autor überließ mir diese Zeilen und ich möchte sie hier in meiner Übersetzung weiterreichen. Urteilen Sie selbst: Die Narten (Auszug) Pschinale der Laschin Amysch (Gott) Mit einer Melodie weckt er uns früh, treibt seine große Herde auf den Hang, Der Narte Amysch, noch rüstig, freit um mich, Mag er auch noch so freien, will ihn nicht. Seine Wangen glänzen vor Fett und Speck, An seinem Hals saugen Milben und Zeck, Amysch von den Narten freit so um mich, Mag er auch noch so freien, binde mich nicht. Tlepsch (Gott) Das Feuer auf seiner Handfläche glüht, Dass es lodert und flammt – ist sein Metier. Tlepsch, der Narten Liebling, freit um mich, Freist du auch vielfach, mit dir geh’ ich nicht. Morgens muss ich dir richten ein Bad, Wem fällt es zu, dich jeden Tag zu baden? Tlepsch, der Narten Liebling, freit um mich, Mag du auch noch so freien, mit dir geh’ ich nicht. Schebetynykue (Gott) Du schießt den Pfeil vom Steilhang der Kurp-Höh’, Bestichst gar die, die schon Dsylysa erreicht’, Der Narte Schebetynykue freit um mich, Mag er auch noch so freien, ich brauche ihn nicht. Im Herbst und Sommer gehen alle auf Jagd, Er ist stets in der Steppe, brauche ihn nicht, Der Narte Schebetynykue freit um mich, Mag er auch noch so freien, ich binde mich nicht. Sosrykue (Hauptgott, der Feuer erbeutet) Sein kleines Pferd Tchueshej ein wenig hinkt, Er selbst ist stählern, auf Du und Du mit dem Gewehr, Auch Sosrykue von den Narten freit um mich, Mag er noch so viel freien, ich brauche ihn nicht. Er ist in Leder gekleidet, ein Hirtensohn, Ein Weiberheld – deshalb will ich ihn nicht. Auch Sosrykue von den Narten freit um mich, Magst du auch noch so freien, ich folge dir nicht. Arykschaue (Gott) Dreißig Ellen Wolle reichen nicht für deine Socken, Wer kann schon weben Wollstoff für dein Gewand?! Arykschaue von den Narten freit um mich, Magst du auch noch so freien, ich folge dir nicht. Lebyzesej, der Knirps Auch Lebyzesej, der Knirps, freit um mich, Magst du auch noch so freien, ich folge dir nicht. Wenn du dich nun verirrst im Gesträuch, Und wo find ich Schuh für dich aus Holz? Auch Lebyzesej, der Knirps, freit um mich, Magst du auch noch so freien, ich folge dir nicht. Echutenydsh Sieben Hosen aus Leder verdarb er bereits, Kein Ende gibt’s seiner Übel, stets Streit. Der Narte Echutenydsh freit um mich, Mag er auch noch so freien, ich will ihn nicht. Schenuej, Sohn des Kandsh Er scheucht seinen Falben durch das Meer, Vermag 800 gescheckte Pferde zu treiben hierher, Scheuej, der Sohn des Kandsh, freit um mich, Mag er auch noch so freien, ich will ihn nicht, Wie sollt ich seine böse Mutter ertrag’n? Aschemes Sein weißmaulig Großpferd versteht ihn bewährt, Der Bursche ist wohl gebaut, beherrscht das Gewehr. Aschemes, Sohn des Aschi, freit um mich, Schickte er Reiter zum Werben, ihm folgte ich. Antwort des Aschemes Bist vorletzte Tochter der Guasche der Emyschechen, Erzogen im Kreise von sieben Hexen, von Feen. Dichtest Lieder über die großartigen Narten, Kannst mich noch so rühmen, es wird nichts draus. Bringst nicht mal zusammen Nadel und Garn, Deine Brüste hängen wie bei einer alten Sau, Von deinen Flirts leiden die Sitten – so wird nichts draus. Antwort der Laschin Dein Kettenhemd ist klein wie ein gülden Schild, Willst männlich gelten, bist aber nutzlos als Mann. Aschames, Sohn des Aschi, freit um mich, Magst du auch noch so freien, ich folge dir nicht. Um ehrlich zu sein, begann ich im Jahre 2008 noch völlig mutig, auch naiv mit dem vorliegenden Buch und hatte die Vorstellung, alle Literaturgattungen zu berücksichtigen. Irgendwann aber kam ich zu der Einsicht und Erkenntnis, dass ich mich auf Prosa beschränken sollte. Auf der einen Seite bemerkte ich, dass sich unsere deutschen Leser vor allem für moderne kaukasische Prosa interessierten, andererseits war es kräftemäßig nicht zu bewerkstelligen, die Literatur der Frauen aller kaukasischer Nationen zusammenzustellen, so wie ich es für die georgische getan habe, für die es keine Gesamtdarstellung gab oder gibt. In den nationalen Literaturgeschichten, vor allem der sogenannten „kleinen“ Literaturen, sind vorwiegend die männlichen Kollegen vertreten und daher schwer auffindbar. Als ich in einer Nationalbibliothek (ich verrate nicht welche) explizit nach den besten Erzählungen von Frauen der letzten Jahrzehnte fragte, wurde mir zunächst wieder Prosa von Männern gereicht und angeboten, und erst im zweiten oder dritten Anlauf einige Titel von Frauen genannt. Wie ersichtlich, war es nicht einmal einfach, die „weibliche“ Prosa des 19., 20. und 21. Jahrhunderts zu sammeln (umso schwerer wäre ältere Literatur und Lyrik, Märchen und Fabeln und später Dramen zu präsentieren). Ich suchte mir viele hilfsbereite Mitkämpfer. Besondere Unterstützung erhielt ich von den im Inhaltsverzeichnis benannten vielen Übersetzern vor allem von Pita Tschkala (Pjotr Tschekalow), Subar Inarki (Inarkajewa), Tscharinqal Maäsat (Maazat Tscharinowa), Madina Chakuasche (Chakuaschewa). Sie stellten nicht nur Verbindungen her, sondern halfen auch bei der Beschaffung einiger Geburts– und Todesdaten, was allein schon einen großen Kraftakt darstellte, und bei der Klärung mancher Spezialausdrücke bzw. Realien. Wer einen ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis wirft, wird zunächst überrascht sein, wie viele der Nationennamen er wahrscheinlich noch nie gehört hat. Auch die Vor– und Nachnamen der Autorinnen könnten irritieren, so andersartig hören sie sich an. Bei alledem darf der Leser nicht vergessen, dass die weitaus meisten Sprachen im Kaukasus keine indogermanischen (indoeuropäischen) sind mit Ausnahme der armenischen, ossetischen, tatischen, kaukasisch-kurdischen und russisch-kaukasischen Literatur. In den Texten wird außerdem sichtbar, dass die verschiedenen kaukasischen Völker unterschiedliche religiöse Glaubenstraditionen offenbaren. In meinem Buch „Die Literaturen der Völker Kaukasiens“, Wiesbaden 2003, kann der interessierte Leser auf S. 256 eine Karte der Religionen des Kaukasus (J. Stadelbauer) finden mit Islam, Christentum, Judentum und Relikten vorchristlicher-vorislamischer Religiosität (Volksglaube, Zoroastrismus). Im gleichen Buch sind die heute im Kaukasus verwendeten Schriften abgebildet, auch die früher benutzten werden benannt. Vielfältig sind die unterschiedlichen Sitten der Kaukasier in den Erzählungen. Das ist nicht nur dem langen Zeitabschnitt (im Buch sind es 130 Jahre) geschuldet, sondern die einzelnen kaukasischen Völker haben über Jahrhunderte hinweg in ihrer bergigen, unbegehbaren Einsamkeit neben der eigenen Sprache auch recht unterschiedliche Riten und Gebräuche herausgearbeitet, die zum Teil bis heute gelten. Und wenn es gemeinsame Epen– und Literaturtraditionen gibt, so sind sie bei den einzelnen Völkern sehr unterschiedlich verarbeitet und akzentuiert. Dasselbe trifft auf die Tischtraditionen mit Toasten, Speisen und Getränken zu. Als Beispiel soll das Teiggericht „Chinkal/Chinkali“ dienen, das bei den Georgiern (Chinkal mit der Nominativendung –i versehen) vor allem mit Füllung (Teigtaschen v. a. mit Fleisch), bei den Dagestanern ohne Füllung bereitet wird, was mich selbst einst durcheinander brachte. Andererseits gibt es Ausdrücke, die inhaltlich in vielen kaukasischen Gebieten in den jeweiligen Sprachen bekannt sind. Niemand weiß, wann sie wo zuerst in der einzelnen Sprache aufgetreten sind. Für mich war es faszinierend eine solche Formulierung in sehr vielen kaukasischen Sprachen zu finden, die man im Deutschen wohl als „mein Lieber, meine Liebe“ übersetzen könnte oder sollte, aber wortwörtlich „Dein Leid auf mich“ bedeutet. Bei der Anordnung der Erzählungen gab es die Möglichkeit, die Prosawerke in ihrer chronologischen Abfolge oder nach den Nationalitäten zu ordnen. Ich entschied mich für die zweite Variante, da so über das bestimmte Volk mehr „erfahren oder erlebt“ werden kann. Möglich wäre natürlich ebenfalls eine völlige Vermischung, aber das widerstrebt meinem gewählten Anspruch, ein schlichter Wegbereiter für die einzelnen Literaturen zu sein. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart, dass einige Werke aus dem Russischen übersetzt wurden. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen schreiben einige Autorinnen nur Russisch (sowohl die russisch-kaukasischen Schriftstellerinnen wie Ljubow Ostrewnaja als auch die kaukasisch-nationalen wie Alissa Ganijewa), andere wiederum sind zweisprachige Autorinnen wie etwa Anahit Topchyan, die mir ihre Texte in russischer Sprache reichten. /Inzwischen gibt es auch einige wenige kaukasisch-nationale Autoren, die sich in der Spache ihrer Wahlheimat (z. B. Deutschland: Iuona Guruli) äußern./ Das hat mehrere Gründe: – Viele Autorinnen haben in der Sowjetunion in der Schule beide Sprachen (die nationale und die russische) gelernt. – Daneben gibt es viele gemischtnationale Ehen, deren Kinder sich selbstverständlich wie ihre Eltern auf Russisch unterhalten. – In Dagestan können sich zum Beispiel die nebeneinander lebenden Völker heute beinahe nur auf Russisch verständigen. – In den nordkaukasischen Städten besuchen die Kinder in den Städten meist die russische Schule, in den russischen Kerngebieten sowieso. – Die Weltliteratur und wissenschaftliche Literatur kann von den Nordkaukasiern meist nur auf Russisch gelesen werden. – Der Buchdruck der eigenen Werke ist im Nordkaukasus meist einfacher auf Russisch zu organisieren als in der eigenen Sprache. Das hängt damit zusammen, dass weitaus mehr Leser in der russischen Sprache als in der nationalen Sprache vorhanden und daher die Auflagen größer sind. – Andererseits ist damit auch die Möglichkeit gegeben, als Schriftsteller schneller außerhalb der Nation bekannt zu werden (Wir erinnern uns an den Welterfolg des Kirgisen Tschingis Aitmatow, der einst auf Russisch schrieb, obwohl er sich durchaus auch auf Kirgisisch hätte äußern können). Insgesamt kann man davon ausgehen, dass in Georgien, Armenien und Aserbaidschan heute diese Zweisprachigkeit (nationale Sprache und Russisch) wesentlich seltener anzutreffen ist als im Nordkaukasus und mit den Jahrzehnten, besonders aber seit 1990 immer weniger wird. Im Zusammenhang mit der Zweisprachigkeit steht auch die Nennung der beiden Namensvarianten der Autorinnen im Inhaltsverzeichnis. Auch diese kommen bei den Georgiern und Armeniern selten vor (lediglich bei Autorinnen, die nicht der Titularnation angehören bzw. ergeben sich hier Namensvarianten durch unterschiedliche phonetische Interpretation). Interessanterweise ist im Nordkaukasus die russische Variante gängig, die ursprüngliche Benennung tritt manchmal selbst in den nationalen Texten nicht in nationaler, sondern in russischer Variante auf. Bezeichnend ist, dass dieses Vorgehen schon gar nicht mehr verwundert und erst dann die nationalen Betrachter erstaunt, wenn sie explizit darauf aufmerksam gemacht werden. Ein Grund dafür ist eventuell die Tatsache, dass bei einigen nordkaukasischen Völkern der Vorname an zweiter Stelle nach dem Familiennamen auftritt: so heißt es eben Tscharins Maäsat (entsprechend Deutsch wäre es: Müllers Luise), während im Russischen Maasat Tscharinowa geschrieben wird. Deshalb haben wir beschlossen, beide, die russischen und die nationalen Namensvarianten anzugeben (sofern wir sie kennen), da außerdem die Autorinnen auch in der russischen Wikipedia oder anderen Nachschlagewerken erfolgreicher auffindbar sind. Sieht man sich die Erzählungen der Kaukasierinnen genauer an, so finden wir eine große Vielfalt von Themen, Darstellungen, Besonderheiten. – Historische Rückschau (Emigration von Armeniern während des Genozids oder Geschichten zur Zeit des zaristischen Russlands im Kaukasus) – Krieggestaltungen (II. Weltkrieg, aber auch neueste kriegerische Auseinandersetzungen) im Mittelpunkt oder eher am Rande – lyrische Naturdarstellungen (z. B. über die zwei Jahreszeiten Sommer und Herbst) – Satire (über einen Sessel, an dem die Vorgesetzten kleben), – moderne Märchen, Legendenbehaftetes (z. B. über einen Löwen, der ein Dorf bewacht) – Tiererzählungen (mit einem Schwan oder einem Wolf), – Kriminalerzählungen (z. B. Schubs von einem Felsen) – und ganz neue, außergewöhnliche Äußerungen wie Annoncen … Ausnehmend auffällig ist ist häufige Gestaltung von Familienbeziehungen, die Innensicht in der Familie aus der Perspektive der Frau: von einem jungen Mädchen, das verheiratet werden sollte, von glücklichen und betrogenen Ehefrauen, von alten Frauen, die aus dem Dorf in die Stadt ziehen, von einer jungen Frau, die erfährt, weshalb der Vater während der Stalinzeit verschwand. Wie eine Weihnachtsgeschichte liest sich die Erzählung „Mschi’eridses Familie“ von Gabaschwili. Frauenschicksale fesseln und beeindrucken wie die der Großmutter Patina, die vierzig Jahre auf ihren Bräutigam wartet, von einer Frau, die von der Stiefmutter als Dienerin missbraucht wird, oder einer Frau, die den Ehemann und einzigen Sohn beerdigt, um nur einige zu nennen. Natürlich spielen Liebesgeschichten eine Rolle, die auch mal ernüchternd enden können wie die lyrisch beginnende Erzählung „Der junge Mann auf dem Pferd“. Es wird von Brüchen in den Traditionen berichtet und Genderfragen aufgeworfen. So zum Beispiel fragen sich die Frauen einer Erzählung, warum den Männern der Berge nach dem Tod der Ehefrau gestattet wird, wieder zu heiraten, Frauen aber nicht, warum bei einem zur Adoption freigegebenen Baby alle die Mutter verurteilen, den Vater aber nicht. Überrascht registrieren wir aber auch die Erzählung einer Autorin mit einem männlichen Protagonisten und der Sicht eines Mannes. Außerordentlich oft erzählen Kinder oder Heranwachsende die Geschichten, egal ob Mädchen oder Jungen, was den Erzählungen einen Touch von Reinheit, Naivität und Lauterkeit gibt. Auch das Dorf als Kollektiv tritt mitunter als Gestalt auf: beeindruckend die Herzlichkeit und Anteilnahme bei Hochzeiten und Trauer, aber es irritieren auch strenge Sitten. Ganz anders wiederum lesen sich die Kurzerzählungen über ein musikbegeistertes Mädchen, das in einer deutschen Kirche von Orgeltönen bezaubert wurde, oder über eine kunstinteressierte Frau, die Opfer eines rachsüchtigen Mannes wird. Tragisches wechselt mit Komischen, Philosophisches, Psychologisches mit Dramatischem, mit Gleichnissen … und die meisten Geschichten lassen sich gar nicht in ein Schema einordnen, vereinen sie doch nicht selten mehrere unterschiedliche Komponenten. Die weitaus meisten Autorinnen des vorliegenden Bandes werden zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht. Nur wenige von ihnen sind schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zeitschriften gedruckt worden wie die Awarin Fasu Alijewa (14 Gedichte, Erzählungen oder Balladen) oder sind erst vor wenigen Jahren mit eigenen Büchern hervorgetreten wie die Awarin Alissa Ganijewa oder die Georgierinnen Ekaterine Gabaschwili und Iunono Guruli. Somit stellt das vorliegende Buch eine erste Schwalbe auf dem Weg der Erkundung der Autorinnen des Kaukasus dar, wobei aber gleichfalls darauf hingewiesen werden muss, dass auch die männlichen Kollegen bislang nicht durch Übersetzungen ins Deutsche (oder andere europäische Sprachen mit Ausnahme der russischen) verwöhnt sind (sieht man einmal von der etwas besseren Situation der armenischen, georgischen und aserbaidschanischen Literatur der nun staatlich unabhängignen Länder ab). Das Wort „verwöhnt“ ist eigentlich zu diplomatisch ausgedrückt, denn es existiert überhaupt kein Sammelband für kaukasische Literatur, auch der männlichen Autoren nicht. Ich bin mir bewusst, dass gewiss noch unaufgespürt gebliebene Autorinnen und deren Erzählungen auf ihre Entdeckung und Übersetzung warten. Gewissermaßen haben zwei große Ereignisse die letzten Arbeiten am Sammelband negativ beeinflusst: einerseits die Coronapandemie und andererseits der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Unter anderen Umständen wäre ich noch zu einer Reise in den Nordkaukasus aufgebrochen, um bislang unentdeckte Schätze zu bergen. Unter den genannten Umständen musste sie ausfallen. Gerade die allerkleinsten Völkerschaften des Kaukasus wie die agulische (19 000 Sprechende), zachurische (19 000 Sprechende), nogaische (34 000 Sprechende), rutulische (18 000 Sprechende), tabasaranische (93 000 Sprechende), tatische (15 000 Sprechende) sind nun vermutlich die Verlierer dieses Geschehens. Interessant zu erwähnen ist wohl auch die folgende Tatsache, dass eine der Autorinnen aus Protest gegen den Überfall Russlands auf die Ukraine ihr Land verlassen und in Kasachstan lebt. So hat die Politik auch Einfluss auf unseren Sammelband gewonnen. Steffi Chotiwari-Jünger
    Hauptlesemotive: Entspannen
    Nebenlesemotive: Auseinandersetzen
    Produktart: Taschenbuch
    Produktform: Taschenbuch

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